Im Hölderlinhaus

Im Hölderlinhaus

Dir nachgehen, Sänger,
Über ächzende Dielen,
Seufzende Stiegen, wo du,
Ein Kind noch, vorsichtig
Schritte, die allerersten, wagtest.

Laute, die dich umgaben, erste,
Die du vernahmst, fortlebend
In dir: Das stetige Murmeln
Der Zaber, sich verlierend
In Rauschen, wo im weiteren
Verlauf den Neckar sie trifft, jenen
Unbezähmbar gebliebenen,
Dessen Stromschnellen
Lange zuvor, raunend
An beiden Ufern Wohnenden
Den Namen des Ortes nannten:
Hlauppa.

Auch: Der sehnsuchtsvolle
Ruf der Glocken vom
Turme der Heiligen, deren
Legendenumwobenem
Lächeln auf Rosenwangen
Die tosenden Fluten des Stromes
Nichts anzuhaben vermochten.

Lerntest du es von ihr: Dich
Ihm anzuvertrauen, Dich
Von ihm tragen zu lassen, weiter
Dem Meere entgegen, von dem
Dir erzählten die Rufe der unruhigen
Möwen? Ihre durchdringenden
Stimmen der Freiheit, weckten sie
Dein empfängliches Herz?

So wie das Licht, welches du
Das gütige nanntest, im
Augenblick, da es dir
Zuallererst begegnete, gespiegelt
Im funkelnden Wasser, beschattet
Vom belaubten Kronendach
Hoher Bäume, unter welchen
Noch frühzeitiger im Jahr
Blaue Sterne, vereinzelt
Ins zartgrüne Gras gestreut, deiner
Ankunft zuerst sich erfreuten.

Weckten sie in dir,
Dem zwischen Klostermauern
Traumverloren Wandelnden,
Jene dich stets begleitende
Liebe zu Pflanzen, zu Blumen?
Zu den Sternen des unendlichen,
Sich weithin verlierenden Alls?

Wandeln wie du
In jungen Jahren, traumverloren.
Nichts haltend, immer nur
Gleichen Mutes alles lassend,
Still empfangend, einzig
Dem Werden sich ver-schreibend.

Lauffen am Neckar, den 20.03.2022

Bettina Johl

Im Januar ließ sich zu unserer großen Freude gemeinsam mit dem Campus-Radio CKCU FM 93.1 der Carleton University in Ottawa/Canada ein Herzensprojekt verwirklichen:

Im Rahmen der wöchentlichen viersprachigen Sendung CKCU Literary News unter der Leitung von Hans G. Ruprecht konnte ein zweiteiliges Interview mit Frau Eva Ehrenfeld, Leiterin des Museums Hölderlinhaus in Lauffen am Neckar, Kuratorin der Ausstellung und Geschäftsführerin der Hölderlin-Gesellschaft, ausgestrahlt werden. 

Beide Folgen sind OnDemand verfügbar und können unter den folgenden Links jeweils unter dem Menüpunkt „Listen now“ (zu finden auf der linken Seite) abgerufen werden:

Besuch im Museum HÖLDERLINHAUS Teil 1

Besuch im Museum HÖLDERLINHAUS Teil 2

Ebenfalls können diese direkt über SOUNDCLOUD angehört werden unter:

und

Die Arbeit an diesem Projekt hat Betty, die in Sachen Radio freilich Amateurin ist, großen Spaß gemacht, sodass sie sich wünscht, es möge nicht das letzte dieser Art gewesen sein. 

Allen weiter oben Genannten, die es ermöglicht haben, gilt unser herzlicher Dank! 

Möge es ein wenig dazu beitragen, dass Menschen auch und gerade heute noch Zugang zu Hölderlin und seinem Werk finden!

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Anschreiben gegen die Weltkrankheit des Größenwahns

Mit der Herausgabe von „,Große Zeiten‘ hinterlassen große Schutthaufen“ legt uns Volker Michels die Briefe Hermann Hesses von 1940 – 1946 vor

Dichtende und schriftstellerisch tätige Menschen anhand ihrer Korrespondenz durch ihr Leben zu begleiten kann süchtig machen! Manchmal bedürfte es eines solchen Warnhinweises, denn die Indiskretion von uns Nachgeborenen, uns Briefe anzueignen, die uns im Grunde nie etwas anzugehen hätten, jenen, für die sie bestimmt waren, nachträglich über die Schulter spähend, bleibt für uns selten ohne Folgen. Er käme jedoch zu spät für alle, die mittlerweile Hermann Hesses sechsten Briefband in den Händen halten. Für jene zumindest, die sich von der ersten Stunde an in den Bann ziehen ließen von den Selbstoffenbarungen des gleichermaßen zornigen wie gedankenvollen jungen Mannes im späten neunzehnten Jahrhundert auf seiner unbedingten Suche nach dem Weg zu seinem selbstgesetzten Ziel, „entweder ein Dichter zu werden oder gar nichts“, bis hin zum keineswegs weniger zornigen und mit den Jahren zunehmend gedankenschweren Dichter des Glasperlenspiels in der Casa Rossa hoch über dem Luganer See. Sie werden beim Aus-der-Hand-Legen des letzten Bandes, der bislang noch nicht in Sicht ist, kaum mehr dieselben sein, die einst neugierig und erwartungsvoll den ersten zur Hand nahmen.

Denn merkwürdig verhält es sich mit Hermann Hesses Briefen. Sie verwandeln sich nicht selten im Zuge des Lesens, richten sich, während die einstigen Adressaten diskret zurücktreten, an uns persönlich, als Briefe eines vertrauten Freundes. Eines Freundes, der uns ganz selbstverständlich mitnimmt – ja, mitzieht – auf den Weg seiner Entwicklung, in die reiche Welt seiner Erinnerungen, Bilder und Gedanken, uns hinführt zu neu oder wieder zu entdeckenden Lektüren, aber auch zu Menschen, die ihm wichtig und bedeutend waren, von denen manche heute nahezu vergessen sind, uns einlädt, der einen oder anderen Spur zu ihnen zu folgen. Eines Freundes, der stets unverbrüchlich zu seinen Überzeugungen steht und dem es dennoch fern liegt, in Überheblichkeit oder gar Besserwisserei zu verfallen, zumal er sein eigenes Denken steter Prüfung und Abwägung unterzieht und über die rettende Fähigkeit verfügt, sich mit galligem Humor über sich selbst lustig zu machen. Eines Freundes, der uns in keiner seiner Lebensphasen verlässt, weil er sich – und damit auch uns – durch alle Krisen hindurch stets treu bleibt. Dass wir diese Empfindungen mit vielen Menschen überall auf der Welt teilen, schlägt Brücken über die Kontinente.

Von einer weniger friedlichen Seite allerdings könnte die Welt sich kaum zeigen, als in jenen Tagen, da wir im vorliegenden Briefband zu unserem Dichter-Freund stoßen. Wir schreiben das Jahr 1940. Hitler-Deutschland hatte im Herbst zuvor die Welt in einen neuen Krieg gerissen, seinen brutalen Überfall auf Polen als „Zurückschießen“ verkaufend, eine dreiste Lüge, die sich bis heute in manchen Köpfen eingenistet hält, und überzieht die eroberten Länder mit beispiellosem Terror und grausamstem Völkermord. Der Nationalsozialismus wähnt sich im Siegesrausch, was ihn umso unerträglicher und gefährlicher macht, allerdings wird er sich in seiner Mordlust und Vernichtungswut auch nicht bremsen lassen, als sich später mehr und mehr die Niederlage abzuzeichnen beginnt, wird erst zu stoppen sein, wenn alles restlos in Trümmern liegt. Für uns Nachgeborene ist und bleibt dies unfassbar und wird umso unbegreiflicher, je älter wir selbst werden und je intensiver wir uns damit beschäftigen. Zu einer ehrlichen Aussprache zwischen den Generationen kam es in den allermeisten Familien nicht. Fragen, besonders die heiklen, jene nach Wissen, Mittäterschaft und Verantwortung, waren tabu. Viele der Älteren verschanzten sich im Lügengebäude der Ahnungslosigkeit und des Nichts-gewusst-Habens, nahmen, was an Wissen und Gewissen übrig war, mit ins Grab und hinterließen uns ihr finsteres Erbe.

In den Briefen Hermann Hesses treffen wir auf keinen Ahnungslosen. Er, der schon während des Ersten Weltkrieges dem Nationalismus und Kriegstaumel seiner deutschen Landsleute in mahnenden Zeitungsaufrufen eine immer deutlichere Absage erteilte, für die er Schmähbriefe kassierte, die heute unter den Begriff „Shitstorm“ fallen würden, sieht die Demokratie der Weimarer Zeit als von Beginn an auf keinem festen Fundament stehend. Die Befürchtung und Überzeugung, dass die Gesellschaft mit Riesenschritten auf einen neuen Krieg zusteuere, findet sich auch mehrfach in seinem bekanntesten Werk aus diesen Jahren, dem Steppenwolf, deutlich benannt. Kaum, dass es jemandem auffiel. Die persönliche Krise eines einzelnen Menschen als Spiegel für die Krise einer ganzen Gesellschaft: Wer hätte es ernsthaft so sehen wollen? Das Buch war zu seiner Zeit ein unerhörtes, es war skandalträchtig, enthielt Frivolitäten und „Unanständigkeiten“, die offen auszusprechen noch nicht allzu lange und längst nicht in allen Kreisen an der Tagesordnung war; es galt darum als der letzte Schrei und wurde von unzähligen Menschen verschlungen, die es im Wesentlichen nie erfassten. Und wahrscheinlich verhielt es sich, da es Jahrzehnte später zum Kultbuch der Sex-and-Drugs-and-Rock-and-Roll-Szene wurde, sehr ähnlich. Vermutlich hätte Hermann Hesse diesen Hype, den er selbst nicht mehr erleben sollte, kaum verstanden, umso mehr, als dieser von den USA seinen Ausgang nahm, einem Land, dessen „Way of Life“ ihm bis zuletzt eher fremd und suspekt bleiben sollte. Was er dazu gesagt hätte, dass sein Steppenwolf fast hundert Jahre später in Deutschland zum Abiturstoff ausgelobt würde, wollen wir uns lieber gleich gar nicht vorstellen. Aber, wer weiß, vielleicht hätte er es angesichts der Probleme unserer heutigen Zeit gar für notwendig befunden, handelt es sich doch um ein Buch, das immer am besten von in einer Krise befindlichen Menschen verstanden wurde. Und an Krisen mangelt es jungen Menschen in der Regel nie, mangelt es uns allgemein heute nicht.

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs ereilte den längst im Tessin lebenden Dichter bereits als Schweizer. Dies wollte jenen Deutschen einmal mehr nicht passen, die ihn schon einen Weltkrieg zuvor als „vaterlandslosen Gesellen“ beschimpften, als er, noch mit deutschem Pass in der Schweiz lebend und wegen Kurzsichtigkeit vom Dienst an der Waffe zurückgestellt, deutsche Kriegsgefangene mit Büchern versorgte, womit er sich wohl der besten Aufgabe widmete, die dieser verheerende Krieg zu bieten hatte. Was jedoch bis heute nur wenigen bewusst ist: Hermann Hesse, der Deutschland stets als seine geistige Heimat begriff, erblickte am 2. Juli 1877 im schwäbischen Calw nicht als Deutscher das Licht der Welt, vielmehr hatte er einen russischen Pass durch seinen deutsch-baltischen Vater, Johannes Hesse. Dieser ergriff jedoch, als er im Rahmen seines Einsatzes für das Baseler Missionswerk mit Frau und Kindern für vier Jahre nach Basel zog, die Gelegenheit, für sich und seine Familie das Schweizer Bürgerrecht zu erwerben. Schweizerische Wurzeln hatte die mütterliche Seite der Familie ohnehin durch die Großmutter Julie Dubois, Ehefrau des bedeutenden Indologen Hermann Gundert. dem bewunderten Großvater, mit dem Hermann Hesse Zeit seines Lebens eine ganz besondere Beziehung verband, die in seinen Erinnerungen lange nachwirkt. Zehn Jahre später musste Hesse jedoch als Schüler zwingend die württembergische Staatsangehörigkeit erwerben, um am Maulbronner Seminar, welches traditionell den Pfarrernachwuchs des Landes heranbildete, als Stipendiat studieren zu können. Dass ausländische Studierende in diesem Land nichts geschenkt bekommen, hat, wenn wir so wollen, eine lange, bittere Tradition.

Wie wir jedoch wissen, nahm dieser ursprünglich vorgezeichnete Weg keinen glücklichen Verlauf. Hermann Hesse sah seinen Weg nicht in einer theologischen Laufbahn, sie wurde ihm schnell zu eng; er brach aus und durchlebte eine von schweren Krisen erschütterte Jugendzeit. Wieder in ruhigeren Fahrwassern, ließ er sich zunächst zum Buchhändler und Antiquar ausbilden, widmete nahezu seine gesamte freie Zeit literarischen Studien und ersten eigenen Schreibversuchen, bis er schließlich mit Peter Camenzind den entscheidenden Durchbruch als Schriftsteller erlangte. Finanziell nun unabhängig, heiratete er 1904 die Baseler Fotografin Maria Bernoulli, mit der er drei Söhne bekam, und lebte ab 1912, als er – nach den Bodensee-Jahren in Gaienhofen – mit der Familie nach Bern gezogen war, ständig in der Schweiz.

Im Jahr 1924, nach dem Scheitern seiner Ehe, erwarb Hesse erneut das Schweizer Bürgerrecht zum Zweck einer neuen Heirat mit Ruth Wenger, Tochter einer Schweizer Fabrikantenfamilie. Diese Ehe, in die er sich gedrängt sah, weil die Schwiegereltern gern die Form gewahrt wissen wollten, tat der Liebesbeziehung als solcher keinen guten Dienst und endete nach nur drei Jahren, ohne dass das Paar je wirklich zusammengelebt hätte. Hermann Hesse, der sich zwischenzeitlich in Montagnola im Tessin dauerhaft niedergelassen hatte und wegen der schlechten Heizbarkeit seiner gemieteten Räume in der Casa Camuzzi die Winter meist in Basel oder Zürich zubrachte, blieb Schweizer. Nach Deutschland, wo nach wie vor seine Bücher verlegt wurden und viele seiner Angehörigen lebten, kam er fortan nur noch besuchsweise, meist, um sich ärztlich behandeln zu lassen. 1936 betrat er zur Konsultation des berühmten Augenarztes Maximilian Graf von Wiser in Bad Eilsen letztmals in seinem Leben deutschen Boden.

Der Umstand, dass Hesses dritte Ehefrau Ninon Dolbin, geb. Ausländer, eine aus Czernowitz stammende österreichische Jüdin, durch die Heirat des Paares 1931 schließlich auch Schweizerin wurde, rettete dieser in letzter Konsequenz das Leben. Ninon Hesse, einer sensiblen, äußerst klugen, gebildeten und weitsichtigen Frau, ungerechterweise zuweilen verunglimpft als „Hausdrachen“, die in ihrem Perfektionismus und überkommener K.-und-K.-Gepflogenheit das Personal möglicherweise ein wenig zu sehr herumscheuchte und ihren Mann notwendigerweise immer wieder vor allzu ausufernden Besucherströmen abzuschirmen wusste, verdanken wir, dass dieser sich seine Schaffenskraft auch durch schwerste Jahre hindurch erhalten konnte – wir dürfen nicht vergessen: Hesse war ein sehr kranker Mann! – und dass uns sein Nachlass uns heute in diesem Umfang vorliegt. In Deutschland. Denn Ninon war es letztlich, die durchzusetzen vermochte, dass dieser ins Literaturarchiv nach Marbach am Neckar ging und nicht in der Schweiz verblieb, wie es eher der Wunsch seiner Söhne und mancher Freunde gewesen wäre. Sie wusste ihren Mann geistig im schwäbischen Raum verortet.

Hermann Hesses Briefe, die uns aus diesem Nachlass vorliegen, richten sich an Familienangehörige, Verwandte, Freunde und Bekannte, an Verleger, an Schriftstellerkolleginnen und -kollegen  – manche dieser Briefwechsel erschienen schon früher in eigenen Ausgaben, wie beispielsweise die mit Thomas Mann, Peter Weiss oder Luise Rinser –, aber auch an befreundete Maler, wie Ernst Morgenthaler, Niklaus Stoecklin, Alfred Kubin, Günther Böhmer oder Cuno Amiet, sowie Komponisten und Musiker, wie Fritz Brun, Will Eisenmann und Othmar Schoeck. Großen Raum nimmt auch die Beantwortung ernstgemeiner Zuschriften von Leserinnen und Lesern ein, die ihm Zeit seines Lebens wichtig bleiben wird und der er sich mit großer Hingabe und Sorgfalt widmet.

Sich mit der gewohnten Offenheit mitzuteilen ist allerdings schon seit geraumer Zeit nur noch in Briefen innerhalb der Schweiz und in unbesetzte Länder möglich. Einen weiteren Mythos nämlich gilt es vom Sockel zu stoßen: den eines sicheren Lebens in der neutralen Schweiz. Neutral bedeutete nicht, dass in diesem Land in Deutschland unerwünschte oder gar verfolgte Menschen automatisch Schutz genossen. Es bedeutete lediglich, dass das Land die Hitler-Diktatur in seiner Nachbarschaft gewähren ließ, ohne sich einzumischen, dass es weder für noch gegen diese Position bezog. Nazigrößen residierten ungestört weiter in Schweizer Hotels, der Arm der Gestapo reichte mühelos auch dorthin, Entführungen waren zu befürchten und fanden ein ums andere Mal auch statt. Und – nein! – es war nicht ohne weiteres möglich, von der Schweiz aus gegen Nazi-Deutschland die Stimme zu erheben, wie dies Thomas Mann aus dem amerikanischen Exil tat. Einer der Vorwürfe, die auch heute immer wieder aufkommen, mit denen Hesse sich konfrontiert sah, sobald die Verunglimpfung als „Drückeberger“ ausgedient hatte.  Einmal mehr wäre an solches nicht zu denken gewesen angesichts einer jüdischen Ehefrau und in Deutschland lebenden Angehörigen, die es unbedingt zu schützen galt.

Briefe nach Deutschland laufen in diesen Jahren stets Gefahr, mitgelesen zu werden. Um die dort lebenden nahestehenden Menschen nicht zu gefährden, können Botschaften allenfalls verschlüsselt übermittelt oder von vertrauenswürdigen Besuchern aus Deutschland persönlich übergeben werden und auch dies ist nicht ohne Risiko. In ständiger Bedrohung befindet sich auch Hesses Verleger Peter Suhrkamp, der mit zähem Verhandlungsgeschick den zwischenzeitlich „zwangsarisierten“ S. Fischer-Verlag weiterzuführen versucht, dessen Inhaber Gottfried Bermann Fischer, Schwiegersohn und Nachfolger des 1934 verstorbenen Samuel Fischer, bereits im selben Jahr in die Emigration gezwungen wurde. Die Nazis schrecken, um Suhrkamp zu Fall zu bringen, auch nicht vor dem Einsatz von Lockspitzeln zurück. Suhrkamp wird schließlich 1944 verhaftet, durchläuft Gestapo-Gefängnisse und Konzentrationslager; er wird kurz vor Kriegsende todkrank entlassen und überlebt nur knapp. Hesse wird davon erst spät erfahren; je länger der Krieg dauert, desto mehr findet er sich von Deutschland regelrecht abgeschnitten. Nachrichten von dort erreichen ihn nicht mehr oder nur verspätet über Umwege.

Hesses eigene Lage ist prekär. Er zählt zunächst nicht explizit zu den verbotenen Schriftstellern, dafür ist er den Nazis zu populär, aber gilt als „unerwünscht“; der Druck seiner Bücher lässt sich wirksam verhindern, indem kein Papier zur Verfügung gestellt wird. Zu Kriegszeiten lässt sich dies dann umso leichter mit der allgemeinen Verknappung der Rohstoffe begründen. Einnahmen aus Deutschland erreichen den Dichter nicht mehr, bedingt durch Devisenstopps; die Gelder finden sich auf deutschen Konten eingefroren. Hermann Hesse lebt von seinen Ersparnissen. Auch an Gönnern und Förderern, die Hilfe anbieten, darunter der Arzt und leidenschaftliche Beethoven-Sammler Hans Conrad Bodmer, der ihm das „Rote Haus“ in Montagnola bauen ließ und schenken wollte, wobei Hesse jedoch lebenslanges Wohnrecht vorzog, oder der Unternehmer und Kunstsammler Max Wassmer, der dem Ehepaar Hesse mit Einladungen in sein berühmtes Schloss Bremgarten bei Bern immer wieder Auszeiten für Erholung und kulturelle Erbauung verschafft, fehlt es glücklicherweise zu allen Zeiten nie.

Sein 1931 begonnenes großes Alterswerk, Das Glasperlenspiel, dessen Schaffensprozess sich über viele Jahre hinzieht, da der unermüdliche Einsatz für Emigrierte und andere Notleidende ihn immer wieder zu langen Unterbrechungen zwingt, beendet Hermann Hesse 1943. Das Buch darf in Deutschland nicht mehr erscheinen. Glücklicherweise gelingt es Suhrkamp noch, ihm das Manuskript, geradezu in letzter Minute, persönlich zurückzugeben. 1944 zerstören Bombenangriffe der Alliierten Suhrkamps Wohnhaus, später auch das Verlagshaus in Berlin und das Papierlager in Leipzig und damit den Rest von Hesses Werk. Dem Dichter bleibt schließlich nur der Weg, einen Teil seiner Bücher in kleiner Auflage bei Verlagen in der Schweiz nachdrucken zu lassen. Das Glasperlenspiel erscheint noch 1943 im Züricher Verlag Fretz & Wasmuth. Seine Leserinnen und Leser in Deutschland, an die sich das Buch essenziell richtet, kann er damit jedoch zunächst nicht erreichen.

Es ist zu spüren, wie sich nach Abschluss dieses Werks eine mentale Veränderung Hesses in den Briefen abzeichnet. Die Welt des Glasperlenspiels als Gegenentwurf, als selbsterschaffene Gegenwelt zum Ungeist des Nationalsozialismus, die ihm zwölf Jahre lang eine geistige Zuflucht bedeutete, in die er sich wenigstens immer wieder für gewisse Stunden zu retten vermochte, diente ihm lange, wie er seinem jüngsten Sohn Martin im Dezember 1943 bekennt, als „Panzer gegen die hässliche Zeit“. Dieser hält nun nicht mehr stand. Die Zeit in ihrer Hässlichkeit, sie dringt unbarmherzig durch, auch wenn der Dichter für sich und alle ihm Nahestehenden bleibende Bilder beschwört: Das regelmäßige Wiederkehren und die Schönheit der Blumen und Schmetterlinge im Frühling oder auch die indische Vorstellung von den vier Weltzeitaltern und deren Verfall, an dessen Ende die Zerstörung durch den wild tanzenden Gott Shiva steht, woraufhin dann der träumende Gott Vishnu in aller Unschuld eine neue Welt entstehen lässt – auch dies wiederzufinden in Hesses letztem großen Roman. Noch im Dezember 1941 resümiert er in einem Brief an den Maler Franz Vetter:

Ich sehe dem Theater, selber vielfach mitbetroffen, zu, ohne mir von ihm imponieren zu lassen. Die Herren der Welt sind, heute wie immer, nur Herren des Augenblicks, und die „großen Zeiten“ hinterlassen große Schutthaufen.

Ab 1943 jedoch scheinen Hesses schriftliche Mitteilungen deutlich kürzer auszufallen und seltener zu werden, was jedoch auch daran liegen mag, dass Korrespondenz während des Krieges zunehmend in Gefahr gerät, verlorenzugehen. Manche Briefe hingegen werden erhalten bleiben, weil sie für Hesses Frau Ninon von besonderem Interesse sind, so dass sie Abschriften von ihnen anfertigt. Innerlich und äußerlich wachsen die Belastungen an, auch die des Haushalts, der kaum noch zu bewältigen ist und dessen Löwenanteil auf Ninon lastet, zumal sich keine Aushilfe mehr findet; hinzu kommen immer wieder Anliegen von Hilfesuchenden, die vom Ehepaar Hesse nach besten Kräften unterstützt und oft auch für gewisse Zeit beherbergt werden. Ninons Lieblingskater, den ein Nachbar erschlug, wird sehr betrauert; sein gewaltsamer Tod lässt die Bedrohtheit des fragilen häuslichen Bereichs als Fluchtpunkt und Rückzugsort umso spürbarer werden.

Wie bereits während des Ersten Weltkriegs sammelt Hesse Geld für Bedürftige durch den Verkauf von Privatdrucken und selbst angefertigten Aquarellen. Für literarisches Schaffen jedoch bleiben ihm, abgesehen von wenigen Gedichten, weder Zeit noch Energie; ein ums andere Mal fällt in den Briefen der Satz: „Ich bin überbürdet.“ Auch bezeichnet Hesse sich mehrfach, wie schon in früheren kritischen Phasen, als „lebensmüde“, gesteht sich aber dann oft im selben Atemzug wieder ein, doch mehr am Leben zu hängen, als er zugeben mag. Im Januar 1943 formuliert er dies mit dem für ihn typischen Sarkasmus in einem Brief an den Schweizer Bildhauer Hermann Hubacher:

Und mit dem Hängen am Leben ist es wohl etwa so: wenn man mich sofort vor die Wahl stellen würde, erschossen zu werden oder weiterzuleben, so würde ich zweifellos blaß werden und plötzlich allerlei gute Gründe für das Weiterleben finden. Dagegen wenn ich es kühl betrachte, was ich an Schönem und Häßlichem mit ziemlicher Sicherheit noch zu erwarten habe, so würde ich doch, weiß Gott, sehr viel lieber nicht mehr leben. Schon der Gedanke, einmal tatsächlich nie mehr Augenschmerzen zu haben, oder nie mehr etwas von Diktatoren und Heeresberichten zu hören, ist ja Erlösung.

Der Dichter ist erschöpft und gesundheitlich stark angegriffen, wird gequält von Kopf- und Augenschmerzen, hinzu kommen Zahnprobleme. Um seine Gicht in Schach zu halten, fährt er weiterhin regelmäßig im Frühjahr und Herbst zur Kur nach Baden und verbindet dies gewöhnlich mit Besuchen bei Freunden, begleitet von Ninon, die solche Auszeiten für ihre kunsthistorischen Studien in der Züricher Bibliothek und Besuche von Vorträgen und Kulturveranstaltungen nutzt. Das Paar schafft sich auf diese Weise Inseln im zermürbenden Alltag. Ebenso werden persönliche und allgemeine Festtage wie Geburtstage oder Weihnachten, auch wenn sie im kleinen Rahmen stattfinden, stets ausgiebig begangen, sie erweisen sich als wichtig. In diesem Zusammenhang nehmen auch persönliche Geschenke einen hohen Stellenwert ein, sie werden – nicht nur in Dankesbriefen – mit geradezu kindlicher Freude ausführlich beschrieben und veranlassen Lesende mitunter zum Mitfreuen. Für etwas Ablenkung sorgt zudem die neu hinzugekommene Rolle des Großvaters: Nach und nach heiraten die Söhne, Enkel werden geboren, kommen hin und wieder zu Besuch. Hermann Hesse, auch wenn der ungewohnte Umgang mit Kindern ihn anstrengt, hat herzliche Freude an ihnen.

Das Ende des Krieges löst, vielleicht entgegen mancher Erwartung, vorläufig kaum Erleichterung aus. Zu groß ist das Ausmaß der Zerstörung, das nun erst überdeutlich sichtbar wird, zu groß die Ungewissheit über das Schicksal von Angehörigen. Hesse ist ohne jede Nachricht von seinen Schwestern, die nach wie vor in Württemberg leben; andere Verwandte wiederum befinden sich in Gefangenschaft. Sein Neffe, der Musiker Carlo Isenberg, Sohn des ältesten Stiefbruders Hesses, Urbild für die Figur des Carlo Ferramonte im Glasperlenspiel, dem der Dichter sich besonders verbunden fühlte, gilt als in Russland vermisst und wird aus dem Krieg nicht zurückkehren. Zu groß, nicht zu ermessen auch die Trauer um all jene, die Opfer von Gewalt, Vernichtungswillen und Zerstörung wurden, darunter fast alle Angehörigen und Freunde Ninons. Deren Schwester Lily Kehlmann überlebt und wird, nach Jahren auf der Flucht und in Verstecken, mit ihrem Mann erst 1948 aus dem sowjetisch besetzten Rumänien in die Schweiz ausreisen können, wo beide als Staatenlose jedoch nur begrenzten Aufenthalt bewilligt bekommen und zur weiteren Übersiedlung nach Frankreich und später in die USA genötigt sein werden.

Auf die Beteuerungen seiner Landsleute, von den von deutscher Seite verübten Gräueln nichts geahnt oder gewusst zu haben, findet Hermann Hesse in einem Brief im März 1946 an den Schriftsteller Wilhelm Schussen, der einst zu den 88 Berühmt-Berüchtigten gehörte, die schon 1933 das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ zu Adolf Hitler unterzeichnet hatten, sehr deutliche Worte:

Die Mehrzahl meiner Freunde in Deutschland wußte Bescheid, und manche sind gleich 1933 emigriert, andre in den Folterkammern der Gestapo verschwunden, so wie die Angehörigen und Freunde meiner Frau fast ohne Ausnahme in Himmlers Gasöfen in Auschwitz etc. verschwanden. Und ihr habt von alledem nichts gewußt! Man glaubt es euch natürlich nicht, denn in diese Kunst des Nichtwissens und Unschuldigseins, während man gleichzeitig bis an die Knie im Blut watet, kann kein anderes Volk sich je hineindenken.

Die Pläne Hitlers seien schon seit dessen Putsch offensichtlich gewesen, die Boxheimer Dokumente von 1931, welche detaillierte Pläne für eine Machtübernahme der Nationalsozialisten beinhalteten und unter anderem Konzentrationslager für politische Gegner vorsahen, hätten sich damals überall in der deutschen Presse veröffentlicht gefunden. Auch sei das plötzliche Entsetzen der Alliierten angesichts der Geschehnisse in den Lagern nicht nachzuvollziehen, da diese bereits 1934 in Prager Zeitschriften geschildert worden seien, während das Ausland Hitler viel zu lange allzu sehr hofiert habe. Die Dinge dürfen wieder ausgiebig beim Namen genannt werden, Hesse kann endlich in gewohnter Weise schreibend seinem Herzen Luft verschaffen, wovon er ausgiebig Gebrauch macht; die Briefe von 1945 bis 1946 machen etwa die Hälfte der Sammlung aus. Ihr Grundton von Bitterkeit lässt sich nicht überlesen. Dass Deutschland ihn wiederzuentdecken beginnt, geradezu als sei nichts gewesen, was sich hauptsächlich darin kundtut, dass Gedichte sich ungefragt in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt finden, ist für ihn mehr Ärgernis als Freude. Als in einer Veröffentlichung seines Gedichts Dem Frieden entgegen in der Stuttgarter Zeitung die Schlusszeilen fehlen, die ihm in ihrer Bedeutung besonders wichtig sind, richtet er eine Beschwerde an die Pressestelle der amerikanischen Besatzung. Der Chief Editor Hans Habe antwortet in einem diskreditierenden Brief mit ungerechtfertigten Anschuldigungen. Hesse ist zutiefst verletzt, wie es die Häufigkeit zeigt, mit der er den Vorfall in seinen Briefen erwähnt; wie sehr, lässt sich gerade in Beteuerungen, wie gleichgültig es ihm im Grunde sei, deutlich zwischen den Zeilen hindurchspüren. Dass sich Kollegen und Freunde für ihn einsetzen und öffentlich Stellung beziehen, kommt für ihn wiederum nicht in Frage, er sucht es nach Kräften zu verhindern. Es ist Thomas Mann, aus seiner neuen Zuflucht-Heimat, dem kalifornischen Pacific Palisades in Los Angeles, seinem „Weimar unter Palmen“, dem es mit einem humorvoll gehaltenen und zugleich von tiefem Verständnis zeugenden Brief gelingt, den Freund und Kollegen buchstäblich von der Palme zu holen. Hermann Hesse und Thomas Mann verband eine viele Jahre währende, unverbrüchliche Freundschaft, die durch alle Wirrnis der Zeiten hindurch und trotz des durch die Emigration der Manns bedingten räumlichen Abstands nie in ihren Grundfesten erschüttert werden konnte, die sich stets aus Respekt und gegenseitigem Sich-Bestärken nährte und in ihrem Einfluss auf das Leben und Schaffen beider nicht unterschätzt werden darf.

Ob über eine Rundfunkansprache zum Jahresbeginn 1946 oder durch Appelle und Aufsätze in der Presse: Hermann Hesse wählt zunehmend öffentliche Mitteilungswege, um seine persönliche Haltung kundzutun und zugleich jenseits abgeschnittener Postverbindungen Menschen in Deutschland zu erreichen. Denn das Radio, von ihm sonst eher ungeliebtes Medium, trägt Botschaften über weite Distanzen und Drucksachen wiederum haben die beste Chance, befördert zu werden. Im September 1945 erscheint sein Rigi-Tagebuch in der Neuen Schweizer Rundschau, welches einen kurzen sommerlichen Erholungsaufenthalt auf dem einzigartig gelegenen Bergmassiv über dem Vierwaldstättersee beschreibt und zugleich, auf aktuelle Briefe aus Deutschland Bezug nehmend, einen eindringlichen Appell an die Landsleute in der zerstörten Heimat richtet, sich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen und sich von nationalistischem Denken endgültig zu befreien.

Aus gegebenem Anlass gibt Hesse im folgenden Jahr seine gesammelten politischen Aufsätze seit 1914 unter dem Titel Krieg und Frieden heraus, die er seinem langjährigen französischen Gesinnungsgenossen Romain Rolland widmet. In einem berührenden offenen Brief im Februar 1946 an seine Schwester Adele Gundert, über deren Schicksal er noch immer im Unklaren ist, lässt Hesse Bilder aus der gemeinsam verbrachten Jugend im gleichermaßen wohlgeordnet-strengen wie gebildet-weltoffenen Elternhaus erstehen, die geprägt sind von der Landschaft des nördlichen Schwarzwaldes, der gemeinsamen Liebe zur Natur und einem Bekenntnis zu unverbrüchlichen Werten, die das Chaos aller Zeiten zu überdauern imstande sind. Er veröffentlicht ihn in der Neuen Züricher Zeitung, um auf diesem Umweg gleichermaßen seine Angehörigen wie auch sein Lesepublikum zu erreichen. Erst im darauffolgenden Sommer werden seine Schwestern Adele und Marulla eine Einreiseerlaubnis für einen Erholungsaufenthalt bei ihrem Bruder in der Schweiz erhalten.

Im April 1946 erscheint in der National-Zeitung Basel, Vorläufer der heutigen Basler Zeitung, ein ursprünglich an Luise Rinser adressierter Brief nach Deutschland. Hesse bezieht darin vornehmlich Stellung zu Briefen, die ihn aus Deutschland und von Deutschen aus Kriegsgefangenenlagern erreichen, und bringt seine Verwunderung über Klagen, Unschuldsbeteuerungen oder allzu plötzliche Gesinnungswandlungen zum Ausdruck. Allen anderen, in die er seine Hoffnungen setzt, den Aufmerksamen und zur Veränderung Entschlossenen, ruft er zu:

Hütet den Keim, bleibt dem Licht und Geiste treu. Ihr seid sehr wenige, aber vielleicht das Salz der Erde.

Mit der jungen Schriftstellerin Luise Rinser, deren 1941 erschienenes Erstlingswerk Die gläsernen Ringe ihn sehr beeindruckt hatte und deren Haltung er bewundert, steht Hermann Hesse zu dieser Zeit schon einige Jahre in Briefkontakt. Dass auch das Leben Rinsers gerade in der Anfangszeit des Nationalsozialismus mehr von Widersprüchen geprägt war, als sie selbst dies ihr Leben lang zuzugeben vermochte, womit sie unter Literaturschaffenden keinen Einzelfall darstellt, wissen wir heute. Zumindest m Begreifen des Lebens als einem beständigen Prozess von Wandlungen, wie es auch in Hesses Gedicht Stufen aus dem Glasperlenspiel meisterhaft zum Ausdruck kommt, standen sich hier zwei schreibende Menschen unterschiedlicher Generationen für einen Augenblick sehr nahe.

Im Sommer 1946 befindet sich die Erschöpfung des Dichters an einem besonders kritischen Punkt, was sich auch dadurch nicht mildern lässt, dass sein Land beginnt, die ihm lange vorenthaltenen Ehrungen nachzureichen, die ihm, wie er in einem Brief im Oktober 1946 an Felix Lützkendorf bekennt, noch mehr zu schaffen machen, als die zuvor erhaltenen zahlreichen Schmähbriefe. Im August erhält er den Goethepreis der Stadt Frankfurt, welchen er schließlich annimmt, nachdem er sich eingehend über die Haltung der Mitglieder des Preiskomitees während des NS-Regimes erkundigt hat. Er nimmt ihn nicht persönlich entgegen, stiftet das Preisgeld notleidenden Künstlern und bedürftigen Menschen in seiner Heimatstadt Calw. Die Nachricht, dass ihm der Nobelpreis, für den Thomas Mann ihn über lange Jahre hinweg immer wieder vorgeschlagen hatte, zugedacht wurde, erreicht ihn gegen Ende des Jahres in Marin am Neuenburger See in der französischen Schweiz, wohin er sich zu einem längeren Erholungsaufenthalt bei Dr. Otto Riggenbach, einem befreundeten Arzt, der dort ein Sanatorium betreibt, zurückgezogen hat. Obwohl dieser alles tut, um ihn abzuschirmen, ist es mit der ersehnten Ruhe schnell wieder vorbei. Die Presse läuft ihm förmlich die Tür ein. In einem Ausdruck komischer Verzweiflung schreibt er im November an seinen viel jüngeren Maler-Freund Günther Böhmer:

Werden Sie kein berühmter Mann, oder werden Sie es beizeiten, solang das einem noch Spaß machen kann.

Die Bedeutung von Preisen und Ehrungen sieht er stets mit Skepsis. Große Freude bereitet der Nobelpreis hingegen seiner Frau Ninon; für sie bedeutet er viel und entschädigt sie für manche Entbehrung und bittere Erfahrung der zurückliegenden Jahre. Ihr eigener Anteil am Spätwerk ihres Mannes ist kein unerheblicher; es ist ihr uneingeschränkt zu gönnen.

Auch nach Stockholm wird Hesse nicht mehr reisen, entschuldigt sich damit, dass sein Gesundheitszustand dies nicht zulasse. Der Schweizer Botschafter Henry Vallotton wird den Preis für ihn entgegennehmen und seine Dankesrede verlesen. Hesse begeht die Feierstunde im engsten Kreis mit Ninon und dem befreundeten Arztehepaar Riggenbach, welches eine kleine Überraschungsparty zaubert und Hesse mit kreativ ausgedachten Glückwünschen seiner literarischen Figuren beschenkt, unter anderen vom liebenswerten Vagabunden Knulp, vom Holländer aus dem Kurgast, welcher diesen einst um den Schlaf brachte, und von Turu, der Sohn des Regenmachers aus den hinterlassenen Schriften des Magister Ludi Josef Knecht aus dem Glasperlenspiel. Die Ausführlichkeit, mit welcher der Dichter diese Details in einem späteren Rundbrief Freunden schildert, zeigt, dass er sich hierüber herzlich freut, und lädt uns Mitlesende, nachdem wir ihn durch eine der härtesten Strecken seines Lebens begleitet haben, einmal mehr zum Mitfreuen ein. Er schreibt:

So wurden wir von diesen lieben Leuten beschenkt und gefeiert und ich war davon mehr berührt, als ich es von der Feier in Stockholm hätte sein können.

Einmal mehr zeigt dies den hohen Stellenwert, den Freundschaften in Hermann Hesses Leben einnehmen. Um die Weihnachtszeit, als die Insignien des Preises eintreffen, hat ihn allerdings der alte Sarkasmus wieder eingeholt:

[…] die Urkunde in schwerer Ledermappe und die goldene Medaille, die liegen nun hier bei mir herum, und ich weiß nicht recht, wo ich sie verstauen soll…

So schreibt er an seine langjährigen Freunde und Förderer, das Ehepaar Wassmer, und es sieht ihm so recht ähnlich. Dass am Ende dieser Briefsammlung die schwierigen Jahre keineswegs überstanden sein werden: Wir ahnen es. Doch es zeichnet sich der Ausblick auf eine weitere spannende Phase im Leben des Dichters ab – die nächste Stufe, um es mit seinen Worten zu sagen –, die uns den noch ausstehenden Briefbänden mit Spannung und Ungeduld entgegensehen lässt.

Die Botschaft, die Hermann Hesses Briefe vermitteln und die sich auch wie ein Roter Faden durch sein ganzes Werk zieht, ist alles in allem ein eindringliches Bekenntnis zu Menschlichkeit, Respekt und Vielfalt, wie es auch in seiner Dankesrede zum Nobelpreis zum Ausdruck kommt:

Es lebe die Mannigfaltigkeit, die Differenzierung und Stufung auf unserer lieben Erde! Herrlich ist es, daß es viele Rassen und Völker gibt, viele Sprachen, viele Spielarten der Mentalität und Weltanschauungen. Wenn ich ein Hasser und unversöhnlicher Gegner der Kriege, der Eroberungen und Annexionen bin, so bin ich es unter andrem auch aus dem Grunde, weil diesen finsteren Mächten so viel an geschichtlich Gewordenem, hoch Individualisiertem, reich Differenziertem, an menschlicher Kultur zum Opfer fällt.

Oder wie der Dichter es zuvor bereits in der Danksagung zum Goethepreis formulierte:

Zwei Geisteskrankheiten sind es nach meiner Meinung, denen wir den heutigen Zustand der Menschheit verdanken: der Größenwahn der Technik und der Größenwahn des Nationalismus. Sie geben der heutigen Welt ihr Gesicht und ihr Selbstbewußtsein, sie haben uns zwei Weltkriege samt ihren Folgen beschert und werden, bis sie sich ausgetobt haben, noch manche ähnliche Folgen zeitigen. Der Widerstand gegen diese beiden Weltkrankheiten ist heute die wichtigste Aufgabe und Rechtfertigung des Geistes auf Erden. Diesem Widerstand hat auch mein Leben gedient, eine kleine Welle im Strom.

Bettina Johl

Hermann Hesse. „,Große Zeiten‘“ hinterlassen große Schutthaufen“.
Die Briefe 1940 – 1946. Herausgegeben von Volker Michels.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
717 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 978-3-518-42953-2

Dieser Beitrag erschien im August 2021 im Rezensionsforum Literaturkritik.de:
https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=28081

Hierzu auch die Radio-Sendung bei CKCU FM 93.1, dem Campus Radio der Carleton University Ottawa, Canada: CKCU Literary News – Wednesday September 29th, 2021
with Hans G. Ruprecht
„Die Romanautorin Bettina Johl über Hermann Hesses Werk und Die Briefe, Bd. 6, 1940-1946 (Suhrkamp Verlag 2021)“
https://cod.ckcufm.com/programs/414/53653.html


On Demand:
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Auch via SoundCloud:

https://soundcloud.com/radiockcu-fm-literary-news/hesse-werk-und-briefe-1940-1946

Literaturhinweise:

Hermann Hesse. Peter Camenzind.
Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
192 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 978-3-518-36661-5

Hermann Hesse. Knulp.
Drei Geschichten aus dem Leben Knulps
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
144 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 978-3-518-38071-0

Hermann Hesse. Kurgast.
Aufzeichnungen von einer Badener Kur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
144 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 978-3-518-36883-1

Hermann Hesse. Der Steppenwolf.
Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
277 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 978-3-518-36675-2

Hermann Hesse. Das Glasperlenspiel.
Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht
samt Knechts hinterlassenen Schriften
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
920 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 978-3-518-46357-4

Luise Rinser und Hermann Hesse. Briefwechsel 1935 – 1951.
Aufgang Verlag, Stuttgart 2017.
164 Seiten, 9,40 EUR.
ISBN-13: 978-3-945732-16-8

Hermann Hesse. „,Große Zeiten‘“ hinterlassen große Schutthaufen“.
Die Briefe 1940 – 1946. Herausgegeben von Volker Michels.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
717 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 978-3-518-42953-2

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Dichterin des Aufbruchs

Über Bettine von Arnim und ihr zuvor unbekanntes Briefbuch „Letzte Liebe“

Eigenartig will es uns ergehen mit Briefen, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht für Dritte bestimmt waren. Wir lesen sie mit einer seltsamen Mischung aus Scheu und Neugier, fühlen uns zuweilen wie Kinder beim heimlichen Blick durchs Schlüsselloch in fremde Stuben. Als eine Fremde will sie mir jedoch nicht gelten, in deren Privatsphäre ich hier eindringe, als sei solches selbstverständlich. Zur Vertrauten hatte ich sie mir früh erkoren, die Schriftstellerin, die bereits meine Mutter so sehr beeindruckte, dass sie fand, ihre Tochter solle einmal ihren Namen tragen. Nachdem das anfängliche Misstrauen der Pubertierenden, all das betreffend, was der eigenen Mutter gefällt, verflogen war, kam die Zeit, da ich sie „rauf und runter“ las: Bettine von Arnim, geboren am 4. April 1785 in Frankfurt als Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano, Tochter des Peter Anton Brentano, eines Großkaufmanns mit italienischen Wurzeln, und der von Goethe verehrten Maximiliane von La Roche, die der Legende nach Werthers Lotte ihre schwarzen Augen verlieh, Tochter der Schriftstellerin Sophie von La Roche.

Auch mich faszinierte sie, aus eigenen Gründen. Die junge Frau, die mir aus ihren Briefwechseln mit Goethe und mit Karoline von Günderrode geradezu entgegensprang, besaß all das, was mir in jenen Tagen fehlte. Mut. Lebendigkeit. Zutrauen in sich selbst. Ich hatte sie nötig. Und für lange Zeit sah ich in ihr das, was die meisten zu sehen schienen: Das Mädchen, die Kleine, den Kobold. Erst später wurde mir bewusst, dass sie eine Frau von fünfzig Jahren war, als sie ihr erstes Briefbuch veröffentlichte, dass alles darin Rückschau auf ihr jüngeres Selbst war. Und dass es sich bei diesem jüngeren Selbst ebenso wenig um ein Kind handelte, vielmehr um eine junge Frau, der kein selbstbestimmtes Leben zugestanden wurde. Ich realisierte auch mehr und mehr, dass die Rolle des unschuldig-verspielten, übermütigen Kindes mit der Hoffnung auf „Welpenschutz“ eine der ganz wenigen war, die einer schreibenden Frau in dieser Zeit blieben, um ihren Gedanken und Gefühlen freien Ausdruck zu verleihen, ohne von der skandalhungrigen Meute der „Philister“ – in der Zeit der Romantik der viel verwendete Begriff für „Spießer“ – zerrissen zu werden. In ihrem Fall schien es sich zu rechnen, zumal sie ihre Rolle mit Humor trug und sie aus innerer Überzeugung lebte. Denn kindliches Empfinden sah sie als Voraussetzung, um im Einklang mit der eigenen Natur zu leben, als Bedingung für Wahrhaftigkeit. Die Philistergesellschaft fand solches unerhört und umlauerte sie stets, aber der unsichtbare Kreis, den sie so um sich gezogen hatte, wurde letztlich respektiert.

Sie deutet diesen Umstand an, beim Beantworten ihrer „Fanpost“, wie wir es heute nennen würden. Der Adressat ist ein junger Mann, Anfang zwanzig. Von einem Freund hatte er ihr erstes Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ empfohlen bekommen und es mit Hingabe und Begeisterung gelesen. Ich versuche mir beim Lesen seiner Briefe einen Zweiundzwanzigjährigen vorzustellen, versuche im Weiteren, mir in der heutigen Zeit junge Männer mit solcher Art Lektüre vorzustellen. Es will nicht gelingen. Auch kaum, dass diese männliche Altersgruppe sich mit Literatur von Frauen beschäftigen könnte, geschweige denn, dass die Schulen ihnen solche vermittelt hätten.

Wenn ich heute junge Menschen – gleich welchen Geschlechts – frage, ob sie sich aus der Schulzeit an Lektüren von Autorinnen oder Dichterinnen erinnern, nennen sie mit einiger Mühe Annette von Droste-Hülshoff und verfallen dann in betretenes Schweigen. Als sei seit Jahren die Zeit stehengeblieben. Bei der Auswahl der Schullektüre nimmt das Phänomen, dass große Literatur von Frauen – und weibliches Schreiben überhaupt – nach wie vor wenig wahrgenommen wird, seine Anfänge. Sexistische Ausgrenzung kennt viele Erscheinungsformen, kaum dass wir noch ihre Mechanismen durchschauen! Aber hier befinden wir uns im neunzehnten Jahrhundert und finden jede Menge junger Männer in Aufbruchstimmung, die begeistert das Buch einer Frau lesen, sehen ein Bild, das wie keines sonst für ein Symbol der Blütezeit der Romantik durchgehen könnte: Ein Jüngling in freier Natur auf einem Granitblock sitzend, aus dessen Ritzen blaue Glockenblumen hervorblühen, „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ lesend. Dass ein solcher Ort keineswegs eine schlechte Wahl ist, weiß, wer schon mit diesem Buch in stillen Waldwinkeln gesessen und sich Bettines unvergleichliche Rheingau-Impressionen zu Gemüte geführt hat.

Bettines Briefpartner Julius Döring ist Jura-Student aus der Gegend von Magdeburg, der sich zu dieser Zeit für einige Semester in Berlin aufhält; er wird später zu einem von „den Studenten“, denen sie ihr nächstes Buch „Die Günderode“ widmen wird. Der andere ist Philipp Nathusius, Sohn eines Fabrikanten aus Althaldensleben, der Bettine bereits drei Jahre zuvor aufgesucht hat und seither mit ihr in freundschaftlichem Briefwechsel steht. Und beide werden nicht die einzigen Vertreter der jungen Generation bleiben, die ihr zu Füßen liegen und über geraume Zeit bei ihr ein und ausgehen. Julius Döring beklagt bereits im ersten Brief, dass sie „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ nicht „der deutschen Jugend“ zugeeignet habe. Die Widmung war stattdessen an Hermann Heinrich Fürst von Pückler-Muskau ergangen Er hatte ursprünglich die Veröffentlichung der früheren Korrespondenz zwischen Goethe und der jungen Bettine angeregt. Sie hatte sie ihm zu lesen gegeben, während er mit ihr eine Art Liebesbeziehung unterhielt, die jedoch zum Zeitpunkt, da das Buch erschien, schon nicht mehr bestand. Der vornehme Herr hatte sich zwischenzeitlich sehr plötzlich entschieden, doch lieber seine bestehende Ehe retten zu wollen.

Nun war Zurückweisung von Menschen, denen ihre unbedingte Hingabe und ihr Sich-Verströmen irgendwann zu viel wurde, etwas, das Bettine von Arnim im Laufe ihres Lebens reichlich erfahren und ertragen gelernt hatte. Sie musste es in jungen Jahren mit Karoline von Günderrode durchleben, der fünf Jahre älteren Freundin, der sie alles anvertraute, die selbst sich ihr jedoch nie ganz öffnete. Die sich letztlich unter einem Vorwand zurückzog, weil sie für sich weder als Frau noch als Dichterin einen begehbaren Weg erkennen konnte und sechsundzwanzigjährig den Freitod wählte. Auch mit Goethe hatte sie es erfahren, dem verehrten Dichterfreund. Er sollte ihr nach ihrer Vorstellung alles sein, sozusagen im Sinne der Dreifaltigkeit: Gott-Vater, Sohn-Freund – das Bild, das sie aus ihren vertrauten Frankfurter Gesprächen mit Goethes Mutter, der „Frau Rat“ bezog – und schließlich Geist, der nach ihrem Wunschdenken ihr ganzes Sein durchdringen sollte. Goethe selbst schien lange Zeit hin- und hergerissen zwischen Faszination und Überforderung, bis er, nach einer handfesten Auseinandersetzung zwischen Bettine und seiner Frau Christiane, einer Art Stress, dem er sich so gar nicht aussetzen mochte, schließlich den Kontakt abbrach. Verglichen hiermit erscheint der Schmerz über den Verlust des fürstlichen Verehrers Pückler-Muskau, mit dem sie auch weiterhin freundschaftlich in Briefen verkehren wird, eher kurz. Sie erklärt ihre Widmung an ihn schlicht zu einem Akt der Fairness.

Der verwegene Schreibstil ihres jungen Verehrers nun scheint ihr zu imponieren. Ist er mit demselben Sinn für Humor und versteckten Sarkasmus ausgestattet – oder kopiert er lediglich ihren Stil? Wohl beides, denn ohne eine gewisse Wesensverwandtschaft hätte ihr Buch kaum so vernehmlich eine Saite in ihm anzuschlagen vermocht. Sie antwortet zunächst in ironischem Ton und erwähnt in diesem Zuge interessanterweise, dass die Höflichkeit der vornehmen Gesellschaft, über die er sich abwertend geäußert hatte, da sie ihm verlogen schien, es schließlich ihr überlasse, „die Pfeife nach beliebigem Tackt (sic!) zu stimmen“. Im Übrigen bewege sie sich in keinen „Zirkeln“, wie er vermute, denn, schreibt sie in ihrer eigenwilligen Orthografie:

„[…] ich habe keine Zirkel, ich hab Die Freie Welt. – Der Mensch, den Gott geboren werden ließ, „mitzufühlen Freud und Qual“ der leicht besser ist in seinen unbefangenen Anlagen als ich, und besser werden soll in seiner Entwicklung, vor dem hab ich Ehrfurcht […]“

Durch ihre Antworten ermutigt, lässt Döring Brief um Brief folgen, versucht darin, vermeintliche Missverständnisse richtigzustellen, sie wiederum gibt ihm zu verstehen, dass sie ihn längst durchschaut hat. Sie tauschen sich mehr und mehr aus, einander wahrnehmend als „verwandte Geister“, deren der Mensch bedürfe, finden rasch ihr gemeinsames Thema: Die Fesseln mit dem Geist sprengen, sich aufschwingen in die Freiheit, Vertrauen in den eigenen Geist setzen… – und wieder geht es, wie auch im bald darauf erscheinenden Briefwechsel mit der Günderrode, geradezu um eine neue Religion in einer eigenwilligen, alle Dogmen sprengenden Auslegung, geht es um „Urhandeln“ und „Leben in der Wahrheit“. Bettine äußert ihre Freude darüber, dass ihr „aus dem Antlitz der Jugend […] derselbe Geist entgegenlächelt“, sieht sich gerne in der Rolle der Mentorin der jungen Generation, von der sie sich den Aufbruch erhofft, der ihrer eigenen einst verwehrt blieb.

Äußerlich ist es die Zeit des Vormärz, des zunehmenden Aufbegehrens gegen die gesellschaftlichen Einengungen in den Jahren der Restauration nach dem Wiener Kongress, als die Herrschenden mit allen Mitteln versuchten, nach der Französischen Revolution und ihren Auswirkungen auf die Nachbarstaaten sowie den Kriegen Napoleons die alte europäische Ordnung wiederherzustellen. Im Jahr 1819 hatten die Karlsbader Beschlüsse die Unterdrückung der öffentlichen, schriftlichen Meinungsfreiheit besiegelt. Die Presse unterlag fortan der Zensur, Forschung und Lehre an den Universitäten wurden überwacht, Studentenverbindungen verboten, liberal gesinnte Professoren entlassen und mit Berufsverbot belegt. Die Juli-Revolution 1830 im benachbarten Frankreich beförderte bei vielen die Hoffnung auf einen Wandel. Auf dem Hambacher Fest zwei Jahre später wurde vornehmlich unter Studenten neben dem Ruf nach nationaler Einheit der nach Rede- und Pressefreiheit laut. Im Königreich Hannover gab es vorübergehend eine liberale Verfassung, die schon den nächsten Thronwechsel vier Jahre später nicht überlebte. Einige Professoren, bekannt als die „Göttinger Sieben“, darunter Jacob und Wilhelm Grimm, die öffentlich dagegen protestierten, wurden prompt entlassen, drei von ihnen gar des Landes verwiesen.

Die Brüder Grimm zählen zu dieser Zeit seit langem zum Freundeskreis Bettines, ihr Schicksal beschäftigt sie. Sie lässt nichts unversucht, ihnen durch ihre Beziehungen über ihren Schwager Friedrich Carl von Savigny zu Regierungskreisen und zum Kronprinzen zu einem Ruf an den preußischen Hof zu verhelfen, was erst 1841 gelingen wird. Für ihr politisches und soziales Engagement ist sie inzwischen bekannt. Bei der Choleraepidemie, die Berlin wenige Jahre zuvor heimsuchte und die reichere Bevölkerung vielfach zur panischen Flucht auf ihre Landgüter veranlasste, war sie es, die blieb und ohne Furcht vor Ansteckung in die Armenviertel ging, Hilfe und Zuspruch leistete, Geld sammelte und für Verpflegung sorgte. In den folgenden Jahren wird sie in ihren Korrespondenzen und Veröffentlichungen immer deutlicher auf soziale Missverhältnisse hinweisen, wie in Dieses Buch gehört dem König und zuletzt in ihrem Armenbuch, welches zu ihren Lebzeiten allerdings nicht mehr erscheinen kann; nach dem Weberaufstand 1844 wird sie in Verdacht geraten, mit zu dessen Aufwieglern zu gehören.

Dies ist nun die ältere Bettine. Ich stelle mit Erstaunen fest, dass ich ihr wiederbegegne, da ich mich im selben Alter befinde wie sie, da sie Julius Döring kennenlernt. „Ein 54jähriges Mütterchen…“ wird der spätere Kunsthistoriker Jacob Burkhardt – auch er etwa in Dörings Alter – sie nennen, als er in einem Brief an seine Schwester von einem Besuch bei ihr erzählt. Er meint es nicht abwertend, spricht von „schöner Haltung“, interessanten Gesichtszügen, bemerkt „echte kastanienbraune Locken“ – offenbar also auch noch nicht die Spur von ergraut! – und schwärmt von „braunsten, wundersamsten Augen“.

Mutterschaft hat Bettine von Arnim in reichem Maß genossen wie erlitten. Während ihrer zwanzigjährigen Ehe mit dem 1831 verstorbenen Achim von Arnim hat sie acht Kinder geboren, wie sortiert: vier Jungen und danach drei Mädchen. Diese scheinen ausnahmslos ihre unverwüstliche Gesundheit und Zähigkeit geerbt zu haben; alle werden das Erwachsenenalter erreichen – nichts Selbstverständliches in jenen Zeiten. Vier Jahre vor der Begegnung mit Döring jedoch hat sie ihren jüngsten Sohn Kühnemund verloren, der ihr sehr nahestand; er verunglückte achtzehnjährig beim Schwimmen in einem Fluss, vermutlich durch eine beim Sprung ins Wasser erlittene tödliche Wirbelsäulenverletzung; manche Quellen behaupten: in der Spree, andere: in der Havel. Wenn es jedoch in der Nähe des Landschlösschens Bärwalde geschah, das zum Anwesen der von Arnims gehörte, dürfte eher das Schweinitzer Fließ dafür in Frage kommen, ein von dort gesehen südlich verlaufender Nebenfluss der Schwarzen Elster. In einem ihrer späteren Briefe an Döring aus Bärwalde erwähnt sie dies, möglicherweise handelt es sich um das einzige, von ihr selbst überlieferte schriftliche Zeugnis ihrer Trauer. Ihre Töchter – im Alter von einundzwanzig, achtzehn und zwölf Jahren – leben in diesen Tagen noch bei ihr, scheinen zu ihrer jugendlich gesinnten Mutter in einem freundschaftlichen, eher schwesterlichen Verhältnis zu stehen und werden bei ausgewählten Briefen auch manchmal zu begeisterten Mitleserinnen.

Die hinter Bettine liegenden Ehejahre waren geprägt von großen Mühen, Geldknappheit und ständigen Umzügen zwischen dem Gut Wiepersdorf im brandenburgischen Fläming und Berlin, wo sie es die meiste Zeit vorzog, mit den Kindern zu leben, vorgeblich um deren Ausbildung willen, sicherlich aber auch, weil sie, mit kulturellen Bedürfnissen ausgestattet, wenig Lust verspürte, dauerhaft als Haus- und Landfrau im märkischen Sand zu versauern. Ihr Mann Achim von Arnim, den sie einst als Freund ihres Bruders Clemens Brentano kennengelernt hatte, akzeptierte dies, wenn auch schweren Herzens, wie auch sonst die Ehe der beiden geprägt war von Achtung, Respekt, gegenseitiger Wertschätzung und einer haltbaren Freundschaft, die schon lange vor der offiziellen Verbindung der beiden bestand. Das häufige Getrenntleben über längere Zeiträume wird dazu führen, dass der rege Briefverkehr zwischen den Eheleuten der Nachwelt reichlich Einblicke in das außergewöhnliche Leben zweier außergewöhnlicher Menschen gewährt. Bettines Trauer, als „Arnim“, wie sie ihn stets nannte, nach kurzer schwerer Krankheit stirbt, ist tief und echt. So sehr, dass sie noch acht Jahre später „frühere Gelübde“ anführt, die sie hindern, sich einer neuen Liebe hinzugeben. Da ist es allerdings längst um sie geschehen.

Die Briefe zwischen ihr und Julius Döring sind zunehmend vertrauter geworden, aus der Anrede „Gnädige Frau“ wird zuweilen „Gütige Freundin“. Der Wunsch, sich zu sehen, nimmt Kontur an. Sie spricht eine Einladung aus, Döring ziert sich zunächst, wirkt befangen. Als er es schließlich doch wagt, sie persönlich aufzusuchen, steht er bereits kurz vor Ende seines Berlin-Aufenthaltes. Es bleibt für uns im Verborgenen, wann genau das erste Treffen stattfand und wie es sich gestaltete, jedoch nicht lange danach offenbart er ihr seine Liebe in einem Gedicht. Seinen vorletzten Besuch, bei dem sie ihm einen Ring schenkt, beschreibt er auf anrührende Weise rückblickend in einem späteren Brief. Der letzte Abend gestaltet sich dagegen eher ausgelassen heiter; etwa aufkommende Melancholie wird im Wein ertränkt, Bettine sorgt im Vorfeld dafür, dass genügend davon im Haus ist, wie sie es in einem übermütigen Brief an Wilhelm Grimm mitteilt. Von einem Kuss zum Abschied ist noch die Rede, mehr erfahren wir nicht.

Während sie sich in Arbeit stürzt, den Nachlass Achim von Arnims ordnend, kehrt der Freund zurück ins heimatliche Wolmirstedt, ins „Philisterleben“, das ihn erwartet und das er fürchtet, ohne den Hauch einer Chance zu sehen, aus diesem ausbrechen zu können. Sein Studium ist beendet, der praktische Teil der Ausbildung steht noch bevor. Die juristische Laufbahn hat Familientradition, der Weg ist durch den Vater vorbestimmt, ein Abweichen nicht erwünscht. Dabei wird es bleiben, trotz verschiedener Überlegungen Bettines, wie er eine alternative Richtung einschlagen könnte, die mehr seinen inneren Anlagen gemäß wäre. Sie ermutigt ihn, „der eigenen Wahrnehmung zu trauen, der eigenen Mahnung zu folgen“ und vor allem aufzuräumen mit „Vorurtheilen“. Keine leichte Übung, denn: „in jedem einzelnen gebären sich alle wieder.“ Und sie tröstet: Eine juristische berufliche Grundlage könne in diesen Zeiten ebenso dazu dienen, seinen Platz in der Welt zu finden, „[…] man kann am rechten Ort auftreten Menschenrecht vertheidigen, es schützen und einhegen, man kann Der Wucht der Übermacht mit Mauerbrechern entgegenarbeiten …“

Vieles von dem, was sie ihm hier auseinandersetzt, wird ihn prägen. Zu gern würde er ihrem Appell an ihn folgen, der da lautet: „[…] sei Dichter; und lass von Deinen geweihten lippen, nimmer den Rhythmus entströmen, als nur was Du im Augenblick fühlst und erlebst, denn nur im Lebendigen kann Unsterbliches sich gestalten.“ Sie liest die Gedichte, die er ihr sendet, nach ihren Worten „wieder und wieder“, liest sie mit den Augen der Liebe. Ob sie Zeugnisse einer tatsächlichen poetischen Begabung sind, soll hier nicht beurteilt werden. Sie sind vor allem eines: aufrichtig, wie sich auch seine Liebe aufrichtig zeigt, und das ist es, was Bettine fühlt und schätzt. Döring ist keiner von der Sorte Mann, der sie aus selbstgefälliger Eitelkeit umgarnt, um hernach im Kreis von Freunden oder Kommilitonen mit seiner Eroberung zu prahlen. Eher scheinen ihm gleichaltrige Freunde völlig zu fehlen, er wird auch von Philipp Nathusius beim späteren Kennenlernen als zurückhaltend und schüchtern beschrieben. Dieser Eindruck mag sich jedoch durch die gesellschaftliche Kluft, die zwischen den beiden Männern besteht, noch vertiefen. Nathusius gehört zur sozial privilegierten Schicht und Döring wird ihn, der bereits einige Veröffentlichungen aufzuweisen hat, als eine Art bessergestellten Konkurrenten wahrnehmen. Eine Dichterlaufbahn wird Julius Döring nicht einschlagen, auch wenn einige seiner Gedichte 1841 in einem Musenalmanach erscheinen werden, zum ersten und zugleich zum letzten Mal. Er wird sich jedoch zu einem engagierten, politisch denkenden Menschen entwickeln und hierbei den Einfluss Bettines erkennen lassen.

Die äußeren Umstände sind nicht dazu geschaffen, eine freie Entfaltung zu befördern. Noch weniger sind sie es für eine ungewöhnliche Liebe zweier ungewöhnlicher Menschen. Auch Bettine ist an gesellschaftliche Konventionen gebunden, wenngleich ihr der Status als verwitwete Baronin als auch ihre neu gewonnene Position als angesehene Schriftstellerin gewisse „Narrenfreiheit“ lässt. Die neue Liebe belebt sie, sie kostet sie aus. Ihr Herz ist jung. Einen zeitweisen Ausbruch, eine einzige Auszeit wird sie sich noch gönnen. Sie plant eine Reise nach Kassel zu den Brüdern Grimm, auf der sie Döring nach ihren eigenen Worten „unterwegs einsammeln“ und mitnehmen wird. Die Route, für die sie die eigene Kutsche nimmt, was ihr Unabhängigkeit verschafft, führt über den Harz, wo die beiden Wanderungen unternehmen, die Stadt Goslar ausführlich erkunden und schließlich in romantisch-nächtlicher Fahrt durchs Okertal über Göttingen weiterreisen nach Kassel. Bei einem Abstecher nach Fritzlar wird Bettine ihrem jungen Begleiter Stätten zeigen, die ihre jungen Jahre prägten, da sie nach dem Tod ihrer Mutter für einige Jahre im dortigen Ursulinenkloster untergebracht war. Es sind wenige Wochen ungezwungener Vertrautheit, die das ungleiche Paar verlebt. Der Fluchtpunkt Kassel weckt Bezüge zu Friedrich Hölderlin und Susette Gontard – auch dies eine Liebe, die es so nicht geben durfte –, die einst in Kassel und Bad Driburg auf der Flucht vor der französischen Belagerung Frankfurts eine unbeschwerte gemeinsame Zeit verbrachten.

Hölderlin. Beide verehren ihn. Als junge Frau wollte Bettine ihn in Bad Homburg besuchen, er galt bereits als erkrankt; ihr pragmatischer ältester Bruder Franz Brentano als ihr Vormund erlaubte es nicht, wie es aus ihrem Briefwechsel mit der Günderrode hervorgeht: „Du bist nicht recht gescheut, was willst du bei einem Wahnsinnigen? willst du auch ein Narr werden?“ Durch Isaac von Sinclair, den engen Freund und Vertrauten Hölderlins war sie in Frankfurt mit seinen Gedichten in Berührung gekommen, sie sah ihn als „mit der Sprache verbündet“. Sie erzählt ihrem jungen Freund während der Reise davon. Schon in einem ihrer ersten Briefe schrieb sie: „[…] Was sich gleicht, das findet sich…“ in Abwandlung an ein Zitat des Hyperion aus Hölderlins gleichnamigem Briefroman, an die Geliebte Diotima gerichtet: „was sich gleich ist, findet sich bald!“ Später wird sie ihm einen Gedichtband von Hölderlin zusenden, mit einem Hinweis auf ihr in Goslar geführtes Gespräch. Beide genießen die kostbaren Momente der Zweisamkeit, von denen sie später schreiben wird: „[…] ich weiß nicht zu sagen daß ich je in meinem Leben glücklicher gewesen wäre.“ Sie schaffen sich innere Bilder, die sie in späteren Briefen wieder und wieder heraufbeschwören werden, um die Erinnerung wachzuhalten. Bei den Brüdern Grimm begegnet ihnen herzliche Offenheit und unvoreingenommene Freundschaft. Gegenteiliges ereignet sich bei der Rückkehr, als beide einer Einladung ins Haus Nathusius in Althaldensleben folgen, wo die Gerüchteküche bereits brodelt. Der Abschied gestaltet sich kurz und unterkühlt, um das Gerede so gering wie möglich zu halten.

Bettine zieht sich nach ihrer Rückkehr in das Landschlösschen Bärwalde südlich von Wiepersdorf zurück – Wiepersdorf selbst ist dieser Tage verpachtet – und widmet sich neuen Projekten. Sie arbeitet an der Herausgabe ihres nächsten Briefbuchs „Die Günderode“, welches sie nun „den Studenten“ widmen wird. Auch denkt sie an eine spätere Veröffentlichung ihrer Korrespondenz mit ihren Freunden aus der jungen Generation. Sie wirbt bei Döring um dieses Vorhaben und bittet ihn um die Zusendung ihrer Briefe, um Abschriften davon erstellen zu können. Ob sie tatsächlich kurzzeitig den Titel „Meine letzten Liebschaften“ in Erwägung zieht, bleibt dahingestellt, dies meint sie wohl eher scherzhaft-ironisch. Er geht darauf ein und wird die Briefe – trotz ihres Versprechens – nicht zurückerhalten.

Zunächst verschiebt sich das Projekt, später kühlt ihre Beziehung allmählich ab. Zu sehr verschieden gestaltet sich das weitere Leben beider. Gelegenheiten, sich durch persönlichen Umgang wieder einander anzunähern, bleiben aus. Der Austausch verlagert sich mehr und mehr auf politische Themen, bei aller Übereinstimmung kommt es immer wieder zu Missverständnissen und schließlich zu einem ernsteren Zerwürfnis durch eine in Eifersucht unbedacht hingeworfene, antisemitisch anmutende Äußerung Dörings, die sich gegen den mit Bettine befreundeten Philosophen Heinrich Bernhard Oppenheim richtet und bei ihr Verärgerung auslöst. Ab 1841 liegen nur noch Dörings Briefe vor, bedingt durch den Umstand, dass von Bettine nur jene Briefe erhalten sind, die er ihr vor dieser Zeit zurückschickte. Ab und zu lässt manches, das er schreibt, noch auf den Erhalt von Antworten schließen, später bleiben diese ganz aus.

1846 wird Bettine von Arnim den Briefwechsel mit Philipp Nathusius unter dem Titel Ilius Pamphilius und die Ambrosia verarbeiten und veröffentlichen. Die Korrespondenz mit Döring wird sie mit Rücksicht auf dessen zwischenzeitliche berufliche Position nicht mit aufnehmen. Auf seine Bitte um Rückgabe ihrer Briefe an ihn wird sie nicht mehr reagieren, aber die gesamte Korrespondenz sorgfältig geordnet verwahren. Döring wird eine politische Rolle bei der Revolution 1848 spielen und nach deren Scheitern wegen liberaler Umtriebe vorübergehend in Verbannung geschickt werden. Politisch engagiert bleibt er auch nach seiner Rückkehr, er wird bis in die 1870er-Jahre einen Sitz als liberal-konservativer Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung innehaben. Später wird sich seine Spur etwas verlieren. Nach seinem Tod 1893 wird ihn eine Zeitungsmeldung als „Veteran von 1848“ würdigen.

Ob Julius Döring nun tatsächlich Bettines „letzte Liebe“ war, bleibt ein Geheimnis, da uns keine weitere brieflich überliefert vorliegt und wir es gewohnt sind, von ihrem Leben aus Briefen zu erfahren. Es will mir aus gewissen Gründen unpassend erscheinen, das Liebeserleben einer Frau ab einem Alter von Mitte fünfzig für abgeschlossen und beendet zu erklären. Bettine von Arnim wird noch etliche Jahre, angefüllt von politischer und literarischer Aktivität, vor sich haben und bis zu ihrem Tod am 20. Januar 1859 in Berlin ein Alter von fast 74 Jahren erreichen.

Wie auch sie einst das künstlerische und literarische Erbe von Seiten ihrer Großmutter Sophie von La Roche empfing, wird sie es an ihre Töchter und Enkelinnen weitergeben. Ihre älteste Tochter Maximiliane, spätere Gräfin von Oriola, wird ein Tagebuch hinterlassen, das zu einem wichtigen Zeitdokument wird. Gisela, die Jüngste, später verheiratet mit Herman Grimm, dem Sohn Wilhelm Grimms, wird eigene Märchen veröffentlichen. Die mittlere Tochter Armgart verfügt über großes zeichnerisches Talent. Aus deren späterer Ehe mit Albert Graf von Flemming werden als Enkelinnen Bettines die Reiseschriftstellerin Elisabeth Heyking, die in ihren Romanen die westliche Kolonialmentalität kritisch beleuchten wird, und die Dichterin, Erzählerin und Übersetzerin Irene Forbes-Mosse hervorgehen. In deren Händen wird bis zu ihrem Tod 1946 Bettines persönlicher Briefnachlass verbleiben. Beide Schriftstellerinnen sind nahezu vergessen. Werke von Irene Forbes-Mosse sind nur antiquarisch erhältlich. Es würde sich lohnen, gerade sie wiederzuentdecken, die als früh emanzipierte Frau um die Jahrhundertwende unbeirrbar ihren eigenen Weg ging. Sie beendete ihre erste Ehe durch Scheidung, reiste viel und lebte nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes mit einer Lebensgefährtin in der Schweiz. Nachgesagt wurde ihr Vornehmheit bei gleichzeitiger Weltoffenheit und Liebe zu allen Armen und Benachteiligten. Ihre Bücher waren in Nazi-Deutschland verboten.

Der erstmals veröffentlichte Briefwechsel zwischen Bettine von Arnim und Julius Döring liegt erstmals in einer schön und aufwändig gestalteten, von Wolfgang Bunzel vom Freien Deutschen Hochstift Frankfurt sorgfältig kommentierten Ausgabe der Anderen Bibliothek vor, durch ein ausführliches Nachwort mit reichlich anschaulichem Bildmaterial ergänzt. Er gilt zu Recht als literarische Ausnahmeerscheinung und ist neben seiner Bedeutung als Zeitdokument der Jahre des deutschen Vormärz ein wichtiges Zeugnis vom Leben, Denken und Schaffen Bettines in reiferen Jahren, zumal uns hier ihre Briefe in nahezu unbearbeiteter Form begegnen und somit ein unverfälschtes Licht auf ihre Persönlichkeit und ihre Lebensumstände werfen. Und wir stellen fest, dass wir in ihnen dennoch die vertraute Bettine erkennen, die uns auch in ihren selbst editierten Briefen entgegentritt. Denn sie trägt stets ihr Herz vor sich her; alles, was sie bewegt, entspringt ihrem reichen Innenleben, anders kann sie nicht. Und auch dort, wo sie etwas literarisch aufbereitet, wo sie erfindet und hinzufügt oder verschweigt und auslässt, wo sie träumt, phantasiert oder fabuliert, bleibt sie immer doch vor allem eines: Sie selbst.

Bettina Johl


Bettine von Arnim. Letzte Liebe. Das unbekannte Briefbuch.
Editiert mit Anmerkungen und einem Nachwort von Wolfgang Bunzel.
Die Andere Bibliothek. Berlin 2019. 576 Seiten, 42,00 EUR. ISBN-13: 9783847704133

Dieser Beitrag erschien erstmals am 30.04.2020 im Rezensionsforum Literaturkritik.de unter: https://literaturkritik.de/von-arnim-letzte-liebe-unbekannte-briefbuch-dichterin-aufbruchs-ueber-bettine-arnim-ihr-bisher-unbekanntes-briefbuch-letzte-liebe,26706.html

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Zum Ende des Hölderlinjahres…

Wenn sich der Tag des Jahrs hinabgeneiget
Und rings das Feld mit den Gebirgen schweiget,
So glänzt das Blau des Himmels an den Tagen,
Die wie Gestirn in heitrer Höhe ragen.

Der Wechsel und die Pracht ist minder umgebreitet,
Dort, wo ein Strom hinab mit Eile gleitet,
Der Ruhe Geist ist aber in den Stunden
Der prächtigen Natur mit Tiefigkeit verbunden.

Mit Untertänigkeit
d. 24 Januar 1743. Scardanelli.


Friedrich Hölderlin

Allen LiteraturfreundInnen ein gutes, hoffnungsvolles & gesundes Neues Jahr!

PS: Das Hölderlinjahr wird in Verlängerung gehen, insofern ist nichts verloren!

Eine weitere gute Nachricht:
Seit dem 20.12.2020 gibt es die „Holunderblüten“ als eBook!
(Eine Druckausgabe ist für 2021 geplant.)

Bettina Johl:
Holunderblüten
Zwei Liebende auf den Spuren Hölderlins
Roman

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2020
124 Seiten
ISBN 978-3-936134-77-3
Preis: 4,50 €

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Aber du scheinst noch, Sonne des Himmels! – Zum 250. Geburtstag Hölderlins

P1210099Aber du scheinst noch, Sonne des Himmels! Du grünst noch, heilige Erde! Noch rauschen die Ströme ins Meer, und schattige Bäume säuseln im Mittag. Der Wonnegesang des Frühlings singt meine sterblichen Gedanken in Schlaf. Die Fülle der allebendigen Welt ernährt und sättiget mit Trunkenheit mein darbend Wesen.

O selige Natur! Ich weiß nicht, wie mir geschiehet, wenn ich mein Auge erhebe vor deiner Schöne, aber alle Lust des Himmels ist in den Tränen, die ich weine vor dir, der Geliebte vor der Geliebten.

Friedrich Hölderlin (Aus: Hyperion)

 

P1210148

Am 20. März 2020 war der 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins. Aufgrund der Corona-Krise wurden allerorten die Feierlichkeiten auf unbestimmte Zeit verschoben. Umso mehr eine Gelegenheit, in unserer derzeitigen, zum Schutz von uns selbst und anderen notwendigen Isolation unseren Dichter zu feiern und neu zu entdecken.

 

 

Cover-Johl-2-200Rechtzeitig zum Jubiläum erschien Bettina Johls Roman Holunderblüten. Roman um zwei Liebende auf den Spuren Hölderlins, der hier in unserem Blog mit mehreren Leseproben vertreten ist, als online frei zugängliche Sonderausgabe bei Literaturkritik.de, ein stellvertretendes Geburtstagsgeschenk an alle literarisch Interessierten, gewidmet allen Liebenden, die es nicht lassen können, stets die Dichter zu bemühen.

Wir freuen uns sehr, dass dieses Projekt, das in einem Zeitraum von zehn Jahren entstand und sich stetig weiterentwickelte, beim Verlag LiteraturWissenschaft.de eine literarische Heimat gefunden hat. Unser Dank geht an alle, die daran glaubten, es über die Jahre begleitet und unterstützt haben und uns darin bestärkten, daran festzuhalten!

Und so bleibt uns, diesen Frühling mit unserem Dichter zu begehen.

P1210156

Schönes Leben! du lebst, wie die zarten Blüten im Winter,

In der gealterten Welt blühst du verschlossen, allein.

Liebend strebst du hinaus, dich zu sonnen am Lichte des Frühlings,

Zu erwarmen an ihr, suchst du die Jugend der Welt.

Deine Sonne, die schönere Zeit, ist untergegangen

Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nun.

Friedrich Hölderlin (An Diotima)

 

Fotos: © 2020 Bettina Johl

 

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Frohe Weihnachten und auf bald im Hölderlinjahr 2020!

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Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet

Der blaue Himmel nur, und wie die Pfade gehen,
Erscheinet die Natur, als Einerlei, das Wehen
Ist frisch, und die Natur von Helle nur umkränzet.
Der Erde Stund ist sichtbar von dem Himmel
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
Und geistiger das weit gedehnte Leben.

Friedrich Hölderlin

Allen LiteraturfreundInnen wünschen wir frohe Festtage
und einen guten Jahreswechsel!

Wir sehen uns im Hölderlinjahr 2020!

Aufnahmeort: Hölderlinstadt Lauffen am Neckar
(Regiswindiskirche und Lauffener Botenmännle)

Foto: © 2019 Bettina Johl

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Naturgemälde und Weltbeschreibung

Zum 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt

Von Dieter Kaltwasser

In der Vorrede zu seinem Buch Kosmos heißt es bei Alexander von Humboldt: „Ich war durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, dass ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne“. Für ihn war die Suche nach Wahrheit ein fortlaufender, nie abzuschließender Prozess des Hinterfragens: „Prüfen Sie von Neuem, was ich veröffentlicht habe, betrachten Sie alles als falsch, das ist das Mittel, die Wahrheit zu entdecken“, so seine Empfehlung an einen jüngeren Kollegen. „Im wundervollen Gewebe des Organismus, im ewigen Treiben und Wirken der lebendigen Kräfte“, so Humboldt in Kosmos, „führt jedes tiefere Forschen an den Eingang neuer Labyrinthe.“ Zum Artikel auf literaturkritik.de

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Märzenbecher

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Märzenbecher –

Bote meines
Herzensmonats
In Weiß
Und Grün.
Was hält
Dein Kelch
Dein zitternder
Für mich bereit?
Süßes?
Bitteres?
Wer kann es wissen?
Du schüttelst
Deinen Kopf.
Vielsagend
Und –
Nichts.
Es bleibt
Dein Geheimnis.
 
Bettina Johl
 
(Text & Foto: © 2019 Bettina Johl)

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Zur Weihnacht

P1160934 (2)

Fröhlich soll mein Herze springen
dieser Zeit, da vor Freud‘
alle Engel singen.
Hört, hört, wie mit vollen Chören
alle Luft laute ruft:
Christus ist geboren.

Paul Gerhardt

Allen LiteraturfreundInnen wünschen wir frohe Festtage
und einen friedevollen Jahreswechsel!

Bettina Johl und Dieter Kaltwasser

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Novembersonne

P1160900 (2)

Novembersonne
Verwandelt alles Gold in Kupfer,
Verstreut die verfallenen Münzen
Auf meinem Weg.
Und es wird einmal mehr nicht reichen,
Mich loszukaufen
Vom nahenden Winter.

Bettina Johl

Fotos: © 2018 Bettina Johl

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